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Zwangssterilisationen am Kantonsspital Winterthur:

Verlängerter Arm der Psychiatrie

Der Operationssaal im Kantonsspital Winterthur von 1914 (Bild: KSW)
 
Tausende von Frauen wurden in Zürich zwischen 1890 und 1970 gegen ihren Willen sterilisiert, wie eine Untersuchung des Historikers Thomas Huonker ergab. Auch am Kantonsspital Winterthur gab es Fälle. Nur sind sie noch nicht untersucht worden.

Michaela* war 14 Jahre jung, als sie 1968 im Kantonsspital Winterthur (KSW) sterilisiert wurde. «Ich wurde bestrahlt», erzählte sie 1997 gegenüber der «Weltwoche». «Zuerst fühlte ich eine angenehme Wärme, dann wurde es immer heisser. Plötzlich ein rasender Schmerz, und ich verlor das Bewusstsein.» Die 14-Jährige hatte ein Nahtoderlebnis und musste reanimiert werden.
Michaela war eines der Opfer von «Kinder der Landstrasse»: Das Pro-Juventute-Projekt sollte Kindern von Fahrenden (Jenischen) zu einem «geregelten Leben» verhelfen und machte sie zu Waisen. Auch Michaela wuchs in Heimen auf, wurde gezüchtigt und sterilisiert, damit sich ihr «Zigeunerblut» nicht vermehre.

Tausende betroffen

An den Fall Michaela mag sich heute niemand mehr erinnern. Der damalige Oberarzt der Gynäkologischen Abteilung lebt nicht mehr. Sein Nachfolger, Dr. Jörg Benz, betont, er habe «so etwas nie erlebt in Winterthur». Benz war 1968 Assistenzarzt in der Gynäkologie und beteuert, dass dort «alles absolut seriöse Leute» gearbeitet hätten. Und überhaupt werde mit der aktuellen Diskussion um die Zwangssterilisationen etwas «hochgepuscht», das in der Schweiz kaum je vorgekommen sei, sagt Benz.
Anderer Meinung ist der Historiker Thomas Huonker. Er hat in seiner Untersuchung in der Stadt Zürich nachgewiesen, dass zwischen 1890 und 1970 Tausende, vorwiegend Frauen, zwangssterilisiert wurden.
Betroffen waren nebst Jenischen vor allem Frauen
der Unterschicht (Dienstmädchen, Arbeiterinnen), Sozialhilfebezüger oder Homosexuelle. Die Sterilisationen basierten auf dem von Burghölzli-Direktor August Forel propagierten Gedankengut, dass sich «Minderwertige» nicht vermehren sollten. Dieses «eugenische» oder «rassenhygienische» Denken bildete später die Basis für die brutale Politik der «Eugenik» in Nazideutschland.

Sterilisiert wegen «Zwergwuchs»

Die von Forels Nachfolger Eugen Bleuler eingeführte Diagnose der «Schizophrenie» erlaubte es, Menschen abzustempeln und ihnen die Wahl zu lassen zwischen Eheverbot und Sterilisation, so dass viele «freiwillig» das zweite wählten.
Auch Abtreibungen wurden häufig nur dann vorgenommen, wenn sich die Schwangere gleichzeitig zur Sterilisation bereit erklärte; auch hier war vordergründig also die Einwilligung der Betroffenen vorhanden.
Bekannt ist, dass in Winterthur zwischen 1928 und 1945 gut 500 Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen wurden. In den meisten Fällen (rund 75 Prozent) wurden die Patientinnen gleichzeitig sterilisiert. Häufig geschah dies aus «psychiatrischen Indikationen» bei «erblich belasteten Psychopathinnen» oder «Schizophrenie». Auch «Epilepsie» und «Debilität» (leichte Schwachsinnigkeit) dienten in Winterthur damals als Gründe für eine Abtreibung mit anschliessender Sterilisation. Ein Fall ist dokumentiert, der eindeutig eugenischen Hintergrund hatte: Die Indikation für die Sterilisation lautete «Zwergwuchs der Mutter».

«Es war ein Thema»

Für die Zeit nach 1945 gibt es keine erforschten Zahlen zu Unterbindungen in Winterthur. Der eingangs erwähnte Fall zeigt aber, dass auch später noch Sterilisationen gegen den Willen der Patientinnen durchgeführt wurden.
Die von Dr. Hans Binder, dem damaligen Direktor der Klinik Rheinau, gegründete Psychiatrische Poliklinik Winterthur hat laut Huonker «viele Gutachten - auch zu Sterilisationen - verfasst». Dr. Andreas Andreae, der heutige Leiter der Integrierten Psychiatrie Winterthur, nimmt an, «dass das auch im Kantonsspital Winterthur vorgekommen ist», wie er auf Anfrage erklärt.
Auch Jörg Benz bestätigt, dass es «psychiatrische Fälle» gegeben habe, in denen unterbunden worden sei. Die ehemalige Oberschwester Myrtha Stähli erinnert sich, dass man damals über «solche Sachen» diskutiert habe und sich gefragt habe, wo «es angebracht ist und wo nicht». Aber das sei eben ein «schwieriges Thema» gewesen, das man «lieber den Chefs überlassen» habe.
Und die Chefs führten wiederum nur aus, was ihnen aufgetragen worden war: «Ohne psychiatrisches Gutachten gab es keine Unterbindung», sagt Dr. Jörg Benz, der sich dagegen wehrt, dass jetzt nachträglich Spitalangestellte zu Sündenböcken gestempelt werden. Sie waren in diesem Sinne ja nur Ausführende als verlängerter Arm der Psychiatrie.

Kantonale Untersuchung

Ob auch im eingangs erwähnten Fall von Michaela ein Gutachten vorlag, lässt sich schwer eruieren: Die Winterthurer Ärztin Sylvia Largo, die sich für Michaela eingesetzt hatte, ist seit zwei Jahren tot. Die Betroffene selber ist vor einem Jahr gestorben.
Licht in ihre Geschichte - und in viele andere auch - dürfte eine kantonale Untersuchung bringen. Diese umfasst die Akten der Kliniken Burghölzli und Rheinau und sollte bis Mitte Jahr abgeschlossen sein.
Schon 1997 hielt der Regierungsrat des Kantons Zürich in einer Interpellations-Antwort fest: «Elektroschocks und Zwangssterilisationen sind […] noch bis Mitte dieses Jahrhunderts bei Patientinnen und Patienten ohne Rücksicht auf Herkunft, Kultur oder Religion angewandt worden.» Diese Aussage stützte sich auf eine Vernehmlassung in den psychiatrischen Kliniken sowie am Universitätsspital und am Kantonsspital Winterthur. Mit der nun laufenden Untersuchung wird dem weiter auf den Grund gegangen. «Es ist nicht auszuschliessen, dass sich in diesen Akten auch Fälle von Zwangssterilisationen in Spitälern finden lassen», sagt Marianne Delfosse, Direktionsassistentin von Gesundheitsdirektorin Verena Diener. Die eigentlichen Spitalakten bleiben jedoch weiterhin unerforscht. «Es wäre von öffentlichem und wissenschaftlichem Interesse, wenn auch diese Akten geöffnet würden», sagt Thomas Huonker. Denn nur so könnten diese «Verbrechen gegen die Menschenrechte weiter geklärt werden.»
*Name geändert


Von René Donzé



27.03.2002